1964/65: Werders Überraschungscoup (Teil I)

von Günther Jakobsen13:36 Uhr | 12.06.2009

Die zweite Bundesligasaison, 1964/65, sollte in vielerlei Hinsicht mit unerwarteten Ereignissen aufwarten. Dazu zählt gewiss, dass mit Werder Bremen ein Team die Schale abräumte, mit dem nur die Wenigsten gerechnet hätten. Dass eine Schneeballschlacht "ins Auge" gehen kann, musste Kölns Abwehrspieler Jürgen Rumor schmerzlich feststellen, derweil einigen Schalker Aktiven die Tränen nach einer deftigen Klatsche gegen den BVB kamen ...

In zwei Vierergruppen waren die beiden Aufsteiger zur Saison 1964/65 ausgespielt worden, die das Feld der Bundesligisten komplettierten. Am Ende hatten sich der Meister der Regionalliga Südwest, Borussia Neunkirchen (Sieger der Gruppe 1, vor Bayern München, Tasmania 1900 Berlin und dem FC St. Pauli), und der Zweite der Regionalliga Nord, Hannover 96 (Sieger der Gruppe 2, vor Hessen Kassel, Alemannia Aachen und FK Pirmasens), durchgesetzt und für das Millionenspiel Bundesliga qualifiziert. Dass die Bundesliga nicht nur sportlich eine Herausforderung darstellte, wurde anhand der Zahlen von Meister Köln klar, der in der Saison 1963/64 cirka 1,7 Millionen Mark in seine Lizenzspielerabteilung investiert hatte. Dagegen stand die Brutto-Einnahme von 3,225 Millionen Mark im gleichen Zeitraum. Finanzielles sollte während der Saison und im Anschluss noch eine entscheidende Rolle spielen. Ob einer anderen, in der Frühphase der Spielserie geschehenen Aktion höhere Bedeutung zukommt, ist wohl eine reine Glaubensfrage. Da nämlich kam die Bremer Fleischerinnung auf die Idee, den Werderanern einen Heidschnuckenbock (Name: Pico, nach Werder-Kapitän Pico Schütz) als Maskottchen zu schenken. Als "Gegen-Hennes" (Kölns Geißbock) sozusagen …

Zupackende Fans
Die erfolgreiche erste Bundesliga-Saison hatte dem Fußball in Deutschland einen Popularitätsschub gebracht und die Fans mobilisiert. Herthas Mittelfeldspieler Uwe Klimaschefski wurde von dieser Begeisterung nach dem Heimspiel gegen den KSC halbwegs aus den Klamotten gezogen. Sieben Minuten vor Spielende hatte er mit einem phänomenalen Sololauf aus der eigenen Hälfte heraus halb Karlsruhe stehen gelassen und maßgerecht für Kremer vorgelegt, der nur noch zum 2:1-Siegtreffer einzuschieben brauchte. Begeisterte, jugendliche Souvenirjäger rissen ihm anschließend förmlich das Trikot vom Leib. HSV-Verteidiger Gerd Krug indes berichtete von der Schlagfertigkeit eines kleinen Berliner Knirpses, der ihm vor dem Hamburger Gastspiel bei der Hertha einen Stift und ein Heft entgegenhielt. Ob er ein Autogramm wünsche, fragte Krug. "Wat heeßt hier Autojramm, ick will`ne Widmung!", schallte es fordernd zurück. Über den anspruchsvollen Dreikäsehoch dürften die Hertha-Verantwortlichen noch gelächelt haben, als jedoch beim Spiel gegen Frankfurt aufgebrachte Fans den Platz gestürmt hatten, musste der Verein 500 Mark Strafe an den DFB zahlen. Noch teurer kam Borussia Neunkirchen der Übereifer eines Anhängers zu stehen, dem beim Heimspiel gegen Werder Bremen die Gäule durchgingen. SVW-Verteidiger Höttges hatte einen Gegenspieler zu Fall gebracht, was den erbosten Zuschauer dazu bewegte, auf den Rasen zu stürmen und Höttges umzuschubsen: 3.000 Mark wegen Disziplinlosigkeit, urteilte das DFB-Gericht. Die zuletzt beschriebenen Fälle waren nicht die einzigen in der Saison, bei denen Vereine für das Verhalten überengagierter Zuschauer zur Kasse gebeten wurden.

Geschäftliches, Wechselabsichten und Meinungsänderungen
Apropos Kasse. Der in Gelsenkirchen mit seinem Schuhgeschäft gescheiterte Ex-Schalker Klaus Matischak kam bei seinem neuen Klub Werder Bremen, abgesehen von einer längeren Verletzungspause, sportlich gut zurecht und führte auch seinen Ausflug in das Bekleidungs-Metier zu einem glimpflichen Ende: "In einer Bremer Garage konnte er in der Vorweihnachtszeit den Restposten Schuhe aus seinem ehemaligen Gelsenkirchener Geschäft abgeben. Er wurde innerhalb kurzer Zeit den ganzen Bestand los, der einen Wert von 22.000 Mark hatte", begleitete das "Sport-Magazin" den Weg des Stürmers. Dortmunds Angreifer Timo Konietzka erhielt von BVB-Ligakonkurrent 1860 München ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Den Leistungsumfang der Sechziger ergänzte ein Tabak- und Totogeschäft, das ein "großer Gönner des Vereins" (Zitat: Sport-Magazin) sponserte. Dortmund verlor neben Konietzka (22 Tore) auch noch seinen zweiterfolgreichsten Goalgetter. Franz Brungs (14 Treffer) kündigte wenige Wochen vor Saisonende den Vertrag wegen "Unzufriedenheit mit der Vereinsführung." Deutlichen Bekundungen seitens der Dortmunder, die Stürmer nicht gehen zu lassen zum Trotz, kamen die Wechsel doch zustande. Brungs unterschrieb beim Nürnberger Club. Ein wundersamer Sinneswandel nahm von Stuttgarts Mittelläufer Klaus-Dieter Sieloff Besitz. "Ich werde den VfB zum Saisonende verlassen. Auf alle Fälle. Anderswo wird mir eine große Existenzmöglichkeit geboten. Ich nehme auch eine Sperre in Kauf…", verkündete er mit finsterer Entschlossenheit. Angebote anderer Vereine in Höhe von bis 100.000 Mark wurden gerüchteweise gehandelt. Das alarmierte den neuen VfB-Coach Rudi Gutendorf, der angab, nur unter der Voraussetzung in Stuttgart unterschrieben zu haben, dass Sieloff bleibt. Die Folge: Krisensitzung bei den Schwaben. Resultat: Sieloff bleibt! Erklärung: "Familiäre Bindungen waren ausschlaggebend." Happy End in München - eine Verstimmung über Trainer Max Merkel ließ Sechzig-Keeper Petar Radenkovic laut über einen Wechsel räsonieren, sein Abschied schien beschlossene Sache. "Der Radi kann nichts besseres tun, als in München zu bleiben. Da hat er doch alles, da ist er König", lenkte Merkel ein. Zu diesem Schluss kam "König" Radi dann auch.

Training, Verletzungen und Tore
Die Grundlagen für ein Erfolg versprechendes Spiel werden im Training gelegt. Der Meidericher SV versprach sich positive Auswirkungen auf die Beinmuskulatur seiner Aktiven durch den Einsatz von Sportschuhen mit Bleiplatten, in denen die Spieler einen Teil des Trainingsprogramms absolvierten. Wofür die abschließende Vorbereitung der Kölner beim Gastspiel in Nürnberg gut war, verschließt sich auf den ersten Blick. Wie ein Auge des Verteidigers Jürgen Rumor, der Opfer einer Schneeballschlacht der Geißbock-Kicker wurde. Rumor musste in ärztliche Behandlung und der FC verlor mit 0:3. Herthas Spielmacher Helmut Faeder kritisierte im November `64: "Unser Training ist schlecht dosiert. Das Pensum ist für manchen von uns zu anstrengend. Ich wiege 180 Pfund, ich halte alles aus". Was die Belastbarkeit seines 90-Kilo-Körpers anging irrte Faeder, wie sich zwei Wochen später herausstellte. Eine Bänderdehnung zwang ihn zu einer Zwangspause von zehn Spielen. Weitaus schlimmer, allerdings nicht auf Trainingsfehler zurückzuführen, verletzte sich Nationalmannschaftsstürmer Uwe Seeler am 22. Spieltag: Achillessehnenriss beim HSV-Spiel in Frankfurt. "Mist. Großer Mist ist das. Doch so schnell bekommt man mich nicht klein. Ein paar Jahre will ich noch dabei sein", verschwendete der Hamburger, der 1964 erneut zum "Spieler des Jahres" gewählt wurde (vor Helmut Haller und Hans Schäfer), bereits einen Tag nach dem Unglück keinen Gedanken an ein vorzeitiges Karriereende.

Die Verteidigung der Torjägerkrone war damit allerdings außer Reichweite geraten. Rudi Brunnenmeier von 1860 München wurde mit 24 Treffern bester Goalgetter der Saison. Dortmunds Timo Konietzka (22) und Kölns Christian Müller (19) belegten die nächsten Plätze. 19 Mal ging der Schuss nach hinten los (Eigentore); 49 Tore fielen durch Strafstöße. Von den insgesamt 73 Elfmetern wurden 54 für die Heimmannschaften gegeben. Ein Feldtor des Schalker Neulings Werner Grau am sechsten Spieltag markierte den 1.000. Bundesligatreffer. Viel Freude dürfte BL-Debütant Grau an diesem Treffer jedoch kaum gehabt haben, war es doch lediglich das Tor zum 1:6 gegen den BVB. Nach 36 Minuten führten die Gäste in der Schalker Glückauf-Kampfbahn bereits mit 6:0, und einige Knappen kamen in der Halbzeit weinend in die Kabine, wie S04-Trainer Langner zugab. Am Ende hatten die Gastgeber das Ergebnis noch auf 2:6 begrenzen können. Die derbste Schlappe der Spielzeit kassierte der Karlsruher SC. 0:9 gingen die Badener beim TSV 1860 München unter; Torjäger Rudi Brunnenmeier erballerte sich in dieser Partie mit fünf Treffern ein paar Zacken seiner Torjägerkrone.

André Schulin



Ich bin angespannt. Aber nicht wegen Platz drei, das ist mir am fünften Spieltag relativ scheißegal.

— Bayern Münchens Trainer Julian Nagelsmann vor dem 5. Spieltag, Bayern München stand zu diesem Zeitpunkt nicht auf Platz eins...