11Freunde-Kolumne

Des Kaisers neue Kleider

Es lebte einst ein Kaiser, dem nichts wichtiger war als seine Kleidung. Da kamen zwei Betrüger und versprachen ihm das edelste Gewand der Welt zu fertigen, das aber nur intelligente Menschen zu sehen imstande seien. Als der Kaiser schließlich durch die Straßen stolzierte, wollte niemand für dumm gehalten werden. Doch der Kaiser war nackt.

Diese hübsche Mär steht sinnbildlich für den Zustand der Deutschen Nationalmannschaft. Was müssen wir uns inzwischen alles antun: Spielerische Offenbarungen gegen Entwicklungsländer, Duselsiege gegen Nationen von dreistelligem FIFA-Ranking, Düpierungen selbst von den Mittelgroßen. Ein Borowski gilt als Heiland, Spieler wie Lincoln und Ismael haben so viel Mitleid, dass sie sich zur Einbürgerung feil bieten. Natürlich ist der Aufwärtstrend stets unverkennbar. Wir sind auf dem richtigen Weg, und jeder Fehler ist ohnehin der Jugend geschuldet. Poldi, Schweini, Marcell und Per – die brauchen eben noch etwas Zeit, aber jedes Spiel bringt sie nach vorn. Fest steht nur eines: Wir werden Weltmeister! Schließlich waren wir in Japan ja auch knapp davor. Richtig, Japan. Da haben wir ja der Welt gezeigt, wo der Frosch die Locken hat. Einen nach dem anderen haben wir vermöbelt, richtig niedergemacht, wie Ulli Hoeneß sagen würde.

Jetzt mal Tacheles. Die WM 2002 hat uns mehr Sand in die Augen gestreut als Klinsmann es jetzt beim armen Lehmann tut. Schon die Vorrunde war ein Witz. Saudi-Arabien, Irland und Kamerun – und da haben wir uns sogar noch schwer getan. Es folgten Zitterspiele gegen Paraguay und die USA sowie gegen ein Südkorea, das im Grunde niemals in diesem Halbfinale hätte stehen dürfen. Der erste Gegner des Turniers wartete im Endspiel – und hat uns weggeschnippt wie aus dem Ohr gepopelt. Frankreich, Argentinien, England, Italien: Nur das pure Glück hatte sie uns vom Hals gehalten und uns am Ende als „Weltmeister der Herzen“ dastehen lassen.

Aber was haben wir jetzt davon. In ein paar Monaten ist die Welt zu Gast bei Freunden und wir wissen nicht viel mehr Rat, als Michael Ballack irgendwo einzufrieren. Um nicht allzu tief zu fallen, sollten wir wenigstens ehrlich sein. Selbstverständlich werden wir NICHT Weltmeister. In Hans Christian Andersens Geschichte war es schließlich ein Kind, das allen die Augen öffnete. „Aber der ist ja nackt!“ schrie es durch die Gegend, und der Kaiser endete in einem Kübel voll Spott. Möge uns dieses Erwachen erspart bleiben.

Maik Großmann