Favoriten vom Reißbrett
von Günther Jakobsen
Am Beispiel der Vorberichterstattungen zur Gruppe A der Fußball-EM 2016 lassen sich die gesammelten, recht einheitlich-vereinfachenden Fußball-am-Reißbrett-Psychologien recht gut veranschaulichen. Das Gros der Sportgazetten geht durchweg davon aus, dass Frankreich Gruppensieger wird, die Schweiz als Zweiter ebenfalls ins Achtelfinale einzieht und Rumänien bestenfalls die Chance hat, als einer der besten Gruppendritten die nächste Runde zu erreichen. „Das kleine“ Albanien wird durch die Bank weg als absolut chancenlos eingeschätzt.
Tatsächlich kann man am „Reißbrett“ auch völlig andere, nicht wirklich unrealistische Szenarien in dieser Gruppe entwerfen, die das Schema F als recht unrealistisch stehen lassen. Beginnen wir bei der allgemeinen Beurteilung des Favoriten und Gastgebers Frankreich, dessen Team allein schon vom Erwartungsdruck seiner Verantwortlichen, seiner Fans sowie nicht nur der französischen Medien erschlagen werden könnte. Eine über lange Zeit bewährt charakterfeste Mannschaft versteht es in der Regel, mit diesem Umstand umzugehen. Davon waren und sind die „Bleus“ allerdings seit längerer Zeit ein gutes Stück entfernt. Rückblick: Erst als, wie bei der letzten WM, keiner mit ihnen rechnete, wurde befreiter aufgespielt und einzig die Deutschen stoppten die Franzosen mit großer Mühe und einem perfekten Hummels-Kopfball. Das unrühmliche Ausscheiden bei vorherigen Turnieren wurde dadurch etwas relativiert. Diesmal zählt die Deschamps-Truppe jedoch wieder zu den Top-Favoriten (wie in den Zidane- und Platini-Zeiten), die Gegner wurden zur 2. bis 4. Reihe des europäischen Fußballs heruntergeschrieben, und Stars wie Pogba, Griezmann und Giroud machen den Gastgebern Hoffnung. Gegen Defensivkünstler wie Rumänien und Albanien aber kann bereits ein Gegentor zur Unzeit die Nerven der jungen Equipe so strapazieren, dass die Offensivkreativität ins Stocken gerät. Das 3:4 der Rumänen im Testspiel gegen die Ukraine war zudem ein netter Coup von Trainerfuchs Angehl Iordanescu, bei dem nicht die vier Gegentore überraschten (die gehörten zum verkraftbaren Risiko), sondern die drei geschossenen Treffer, die schon konkreter belegen, dass der vermeintliche Außenseiter - trotz vieler Unkenrufe der Fachpresse - auch die Vorwärtsbewegung kann - wenn gewünscht. Dennoch deutet vorm Eröffnungsspiel alles auf eine äußerst torarme Partie hin. Meine Hoffnung auf eine Ausnahme ist verschwindend gering.
Fast noch problematischer wird die Partie Frankreich gegen Albanien ausgehen können. Im letzten Jahr zeigten die Kicker aus der Region der Skepitaren, dass ein 1:0-Erfolg in einem Freundschaftsspiel gegen die Franzosen kein Ausrutscher des Favoriten sein muss, sondern eine neue Form der Fußballrealität. Auch hier gilt: haben die Albaner einmal vorgelegt, wird es ganz schwer gegen diese eingespielte, beinharte Defensive, die mit Etrit Berisha auch noch einen exzellenten Tormann dahinter stehen hat, zu gewinnen. Somit kann das dritte Spiel der Franzosen, gegen den Gruppen-Mitfavoriten, der Schweiz, vielleicht die einfachste Konfrontation in der Gruppe werden. Die teils zu überambitionierten Eidgenossen hatten nicht selten zuletzt ein selbstbewusstes Bigmouth gezeigt, können zudem mit einer Reihe international bewährten Einzelspielern aufwarten, die in ihren über Europa verteilten Vereinen längst zu Stammspielern gereift sind. Sie überzeugten zuletzt auf dem Platz allerdings weniger als eine zusammengeschweißte Einheit, die das Können der einzelnen Akteure zu bündeln weiß, sondern präsentierten sich als eher harmlose, inhomogene Truppe, deren einzelne Mitglieder zwar seit Jahren den Kern der Nati bilden, ihr Potential als Team aber nicht abrufen konnten. Auch bei der Petkovic-Elf und seinem lautstarken Kapitän, dem von Gladbach zu Arsenal wechselnden Granit Xhaka (dessen Duell mit Bruder Taulant vom Gruppengegner Albanien zu einem der zentralen Themen in der Gruppe A erbärmlich hochgejazzt wurde), dürfte sich der wahre Charakter des Schweizer Teams erst nach einem Gegentor zeigen. Kreativität und Ordnung fehlten jedenfalls zuletzt, nicht nur in der teils wenig funktionellen Deckung, sondern auch im essentiellen Umschaltspiel.
Da Europameisterschaften nie so enden, wie es die Vorhersagen der Reißbrett-Analysten vor den Spielen verheißen, steckt nicht nur in der Gruppe A ein gehöriges Maß an Überrschungspotential, welches die Dramaturgie der Ereignisse am Ende so beeinflussen könnte, dass nach sechs Spielen die Tabelle sogar auf dem Kopf stehen könnte. Ein misslungenes Eröffnungsspiel hat schon vielen Mannschaften den Saft aus den Hoffnungen gezogen. Ein „schräger“ Ablauf wäre also genauso gut möglich wie ein „normaler“ vom „Reißbrett“, der, laut langer EM-Tradition, oft eher zu den Ausnahmen zählte.
Ulrich Merk
Tatsächlich kann man am „Reißbrett“ auch völlig andere, nicht wirklich unrealistische Szenarien in dieser Gruppe entwerfen, die das Schema F als recht unrealistisch stehen lassen. Beginnen wir bei der allgemeinen Beurteilung des Favoriten und Gastgebers Frankreich, dessen Team allein schon vom Erwartungsdruck seiner Verantwortlichen, seiner Fans sowie nicht nur der französischen Medien erschlagen werden könnte. Eine über lange Zeit bewährt charakterfeste Mannschaft versteht es in der Regel, mit diesem Umstand umzugehen. Davon waren und sind die „Bleus“ allerdings seit längerer Zeit ein gutes Stück entfernt. Rückblick: Erst als, wie bei der letzten WM, keiner mit ihnen rechnete, wurde befreiter aufgespielt und einzig die Deutschen stoppten die Franzosen mit großer Mühe und einem perfekten Hummels-Kopfball. Das unrühmliche Ausscheiden bei vorherigen Turnieren wurde dadurch etwas relativiert. Diesmal zählt die Deschamps-Truppe jedoch wieder zu den Top-Favoriten (wie in den Zidane- und Platini-Zeiten), die Gegner wurden zur 2. bis 4. Reihe des europäischen Fußballs heruntergeschrieben, und Stars wie Pogba, Griezmann und Giroud machen den Gastgebern Hoffnung. Gegen Defensivkünstler wie Rumänien und Albanien aber kann bereits ein Gegentor zur Unzeit die Nerven der jungen Equipe so strapazieren, dass die Offensivkreativität ins Stocken gerät. Das 3:4 der Rumänen im Testspiel gegen die Ukraine war zudem ein netter Coup von Trainerfuchs Angehl Iordanescu, bei dem nicht die vier Gegentore überraschten (die gehörten zum verkraftbaren Risiko), sondern die drei geschossenen Treffer, die schon konkreter belegen, dass der vermeintliche Außenseiter - trotz vieler Unkenrufe der Fachpresse - auch die Vorwärtsbewegung kann - wenn gewünscht. Dennoch deutet vorm Eröffnungsspiel alles auf eine äußerst torarme Partie hin. Meine Hoffnung auf eine Ausnahme ist verschwindend gering.
Ulrich Merk