Erneut stehen wir vor einem vierunddreißigsten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Wieder einmal hat sich die Situation an der Tabellenspitze so zugespitzt, dass noch mehrere Mannschaften den Titel gewinnen können. Und erneut suchen Fußballbegeisterte in den Aufzeichnungen verflossener Saisons nach Parallelen, Vergleichen und vielleicht auch nach längst vergangenen Gefühlen ähnlicher Vorfreude und Spannung, die ein solcher Höhepunkt einer Spielzeit mit sich bringt.
Zuerst denkt man natürlich an das kaum mehr zu überbietende „Herzschlagfinale“ der vergangenen Saison, in dem sich die Ereignisse in den Schlussminuten überschlugen und man selbst nach dem Andersson-Tor beim HSV noch das Gefühl hatte, es könnte noch etwas passieren, was die Situation wieder völlig ins Gegenteil verkehrt. Die Leiden der Schalke-Fans wurden von einschlägigen Beobachtern zur nationalen Katastrophe umgedeutet und die Schadenfreude der Bayern-Fans hallte durchs ganze Land. Steigerung unmöglich.
Unvergessen auch das Finale des Jahres 2000, heute unter der Formel „Trauma Unterhaching“ geläufig. Es ging wie heute um Bayer Leverkusens Chance, erstmals die Meisterschaft zu gewinnen. Auch damals waren viele Fußball-Fans dafür, auch wenn die Leistungen des damaligen Teams selten an die Klassevorstellungen der aktuellen Werkself heranreichten, war schon allein die Tatsache verbindend, dass es nicht der FC Bayern werden sollte. Doch das junge Team um die aufstrebenden Ballack, Ze Roberto, Ramelow, Nowotny, Robert Kovac, Bernd Schneider etc. unterschätzte den psychischen Druck, der zur Lähmung wurde, als Michael Ballack das unglückliche Eigentor unterlief. Die Bayern machten derweil gegen Werder ihr cooles 3:1-Ding und die nicht geringe Anzahl an schadenfrohen FCB-Fans schlugen sich bundesweit auf die Schenkel.
Auch der Dreikampf der Saison 1991/92, der im Showdown der 86. Minute in Leverkusen gipfelte, wo Guido Buchwald per Kopf nach einer Ludwig Kögl-Flanke den 2:1-Sieg für den VfB Stuttgart sicherstellte. Wäre es beim 1:1-Remis geblieben, wäre Borussia Dortmund Meister geworden. So aber griffen sich die Schwaben den Titel, den (fast) alle in Händen der so wunderbaren Fußball zelebrierenden Frankfurter Eintracht gesehen hatte. Doch das Stepanovic-Team mit Stein, Binz, Bein, Möller, Anderson, Yeboah etc. versagte bei den verzweifelt gegen den Abstieg kämpfte Rostockern und wurde nur soetwas was heutzutage als „Meister der Herzen“ einsortiert wird. Nebenbei: der FC Bayern wurde in dieser Saison Zehnter.
Der FC Bayern hatte dagegen im denkwürdigen Finale 1986 die Nase vorn. Das Drama hatte seinen Höhepunkt allerdings in der 88. Spielminute des 33. Spieltages im Bremer Weserstadion gegen Bayern München, als Michael Kutzop, bis dahin fehlerfreier Elfmeterschütze, den entscheidenden Fehlschuss seiner Laufbahn tätigte. Ein Tor hätte für Werder die Meisterschaft bedeutet, aber so gingen die Bremer mit „nur“ zwei Punkten Vorsprung vor den Münchenern in den 34. Spieltag, enttäuschten beim Erzrivalen VfB Stuttgart bei der 1:2-Niederlage, während der FCB dank des besseren Torverhältnisses und eines 6:0-Kantersieges gegen Gladbach im Olympiastadion, umjubelt die häßliche Schale in Empfang nehmen durfte. Das Rehhagel-Team musste allerdings nur zwei Jahre warten bis es selbst dran war – ohne Showdown und äußerst souverän.
Erinnert sei auch an das skandalöse Finale der Saison 1977/78. Vor dem letzten Spieltag standen der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach punktgleich an der Spitze. Gladbach musste gegenüber Köln, falls die bei Absteiger St. Pauli mit einem Tor gewonnen hätten, zwölf (!) Tore aufholen, um die Domstädter aufgrund des Torverhältnisses vom Titel abzuhalten. Gegen ein desolates Team von Borussia Dortmund gewann Gladbach 12:0 (!), hatte also sein Soll erfüllt. Doch zum Glück gewannen die Kölner in Hamburg sicher mit 5:0 und die Dortmunder Spieler erhielten von ihrem Arbeitgeber Geldstrafen – Trainer Otto Rehhagel flog raus.
Betrachtet man sich also diese o.a. extremsten Varianten an Dramaturgien des vierunddreißigsten Spieltages, kommt man dem Verständnis des Phänomens der Fußballbegeisterung für das Saisonende vielleicht eine Idee näher. Doch die Frage, was aufregender sei: das Vor, Während oder Nach dem 34. Spieltag, wird wohl jeder Fan anders beantworten.
Franz Heck
Der Herbstmeistertitel ist unwichtig, deshalb verkaufen wir in Gelsenkirchen nicht einen Tannenbaum mehr.
— Rudi Assauer