Klinsi, Poldi, Schweini, 2006 – das war gestern. Die deutsche Nationalelf der Gegenwart ist keine Mannschaft mehr, die zu einem Sommermärchen taugt. Dabei ist das gar nicht schlimm, sie taugt nämlich zum Titel.
Für einen Moment war sie wieder da, diese Erinnerung an die Zeit der WM 2006. Bastian Schweinsteiger hatte einen schwarz-rot-goldenen Cowboyhut auf, Lukas Podolski tanzte vor den Fans, die »Humba, humba, humba täterä« sangen. Die deutsche Nationalelf hatte gerade Portugal im Viertelfinale der Europameisterschaft bezwungen, die Party konnte beginnen.
Doch Moment: Wir schreiben das Jahr 2008, die Gedanken an das Sommermärchen sind nur noch eine schöne Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Diese Mannschaft ist kein Team mehr, das begeistert wie junge Hunde durch ein Turnier stürmt - um dann im Halbfinale an abgezockten Italienern zu scheitern. Das geht diesmal schon nicht, weil zum einen Italien ausgeschieden ist und die deutsche Elf am Mittwoch gegen die Türkei spielt. Aber nicht nur deshalb muss man sich keine Sorgen machen, weil dieses Team gewachsen ist und kein Sommermärchen mehr braucht. Gründe dafür gibt es genug.
Schweinsteiger und Podolski sind erwachsen geworden
Es beginnt beim Duo Schweini & Poldi, das nicht mehr so genannt werden will, weshalb das nun auch das letzte Mal war, dass Schweinsteiger & Podolski in diesem Text Schweini & Poldi heißen. Lukas Podolski zeigt sich in diesen Tagen als erwachsen gewordener Mittelfeldspieler, der seine Laufwege kennt und auch einhält. Auch in Interviews gibt er nicht mehr den locker dahinplappernden Luftikus, sondern spricht vernünftig über Taktik und seine Rolle auf dem Feld - meistens jedenfalls. Ähnlich verhält es sich bei Bastian Schweinsteiger. Nach seiner Sperre gab er sich geläutert, die Entschuldigung dafür lieferte er nicht mit leeren Worthülsen, sondern mit einer bravourösen Leistung im Viertelfinale.
Michael Ballack hat sich durch seinen Wechsel ins Ausland nicht nur als Spieler, sondern vor allem als Mensch deutlich weiterentwickelt. Er muss nicht mehr die Quadratur des Kreises schaffen wie noch 2002, als er das Spiel ordnete und nebenbei noch alle wichtigen Treffer erzielte; er muss auch nicht mehr der »Capitano« sein wie 2006. Er stellt sich gelassen in den Dienst der Mannschaft - was er auch immer wieder betont - und erzielt dennoch wichtige Tore wie gegen Österreich und Portugal.
Die gewachsene Mannschaft zeigt sich auch beim stets kritisierten Christoph Metzelder. In der Tat verbesserte sich seine Physis von Spiel zu Spiel, was er gegen Portugal mit einigen gewagten Vorstößen ins Mittefeld zu unterstreichen suchte. Er benötigte keine auffällige Leistung, kein unglaubliches Tackling oder eine Rettungstat auf der Linie. Er arbeitete sich langsam an das Niveau heran, das ihn bei der WM 2006 auszeichnete, die Unauffälligkeit ist dabei seine Stärke. Unterstützt wird er dabei vom ebenso unauffälligen, dafür umso effektiveren Per Mertesacker, der Metzelder stets zu Hilfe eilt, wenn sie vonnöten ist.
Kurzerhand die Körper getauscht
So zieht es sich durch die gesamte Mannschaft: An Jens Lehmann prallte die Kritik ab wie Regen am Dach des Wörtherseestadions, nach einigen Unsicherheiten im ersten Spiel wurde er wieder zum sicheren Rückhalt. Clemens Fritz spielt effektiv und bescheiden auf der rechten Seiten, auf Philip Lahm kann man sich sowieso verlassen. Und im defensiven Mittelfeld haben Simon Rolfes und Thomas Hitzlsperger den Dauernörgler Torsten Frings derart gekonnt vertreten, dass Joachim Löw vor dem Spiel gegen die Türkei gar die beim DFB seit Jahren praktizierte Platzhirsch-Hierarchie über Bord werfen könnte.
Überhaupt Löw: Er ist kein Durch-die-Wand-stoßen-Trainer, wie es Jürgen Klinsmann 2006 war. In der Situation vor zwei Jahren war ein Trainer wie Klinsmann dringend notwendig, weil die Mannschaft von Begeisterung lebte. Die Elf 2008 jedoch muss nicht gepusht, sondern geführt werden. Das tut Löw und deshalb fiel es nicht so ins Gewicht, dass er gegen Portugal nicht an der Seitenlinie stand. Hansi Flick vertrat ihn so, als hätten die beiden kurzerhand die Körper getauscht.
Nein, diese Mannschaft taugt nicht mehr für eine Sommermärchen-Elf - aber sie taugt, um das Spiel gegen die Türkei zu gewinnen und auch das mögliche Finale erfolgreich zu bestehen. Diese Elf will kein Märchen schreiben, sondern eine reale Geschichte.
Jürgen Schmider
11Freunde-Online
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