Der schmale Grat

Desaster. Debakel. …sind wir schlecht. Die Medienlandschaft war sich über den katastrophalen Auftritt der DFB-Elf in Florenz einig wie selten. Während die Berichterstatter und Kommentatoren im finsteren Wörter-Keller nach düsteren Formulierungen stöberten, wurde kaum nach der Ursache gefahndet.
Trainer und Spieler der deutschen Mannschaft schoben als Auslöser der 1:4-Klatsche in Florenz vor allem den Doppelschlag der Italiener in den ersten sieben Spielminuten als Hauptargument in die vorderste Linie ihrer Erklärungsversuche. Nach diesen beiden Toren hätten die Italiener dann leichtes Spiel gehabt, da sie das Team des WM-Veranstalters in Ruhe hätten auskontern können, was dann auch weidlich ausgenutzt worden sei. Nachfragen, warum denn kein Aufbäumen erfolgt sei bzw. Aggressivität und die Einstellung, das Spiel noch einmal umzubiegen, gefehlt hätten, wurde mit einer allgemeinen Schockwirkung nach dem frühen 0:2 erklärt. Soweit, so irgendwie nachvollziehbar, die Ausflüchte der Verantwortlichen.
Moderator Delling, Experte Netzer und die Interviewer der ARD, Bergener und Lierhaus sowie die sonstigen Kommentatoren der Medien klopften angestrengt die Begriffe "Leidenschaft", "Einstellung", "Verantwortung" etc. ab und erhielten von ratlos dreinschauenden Akteuren und Funktionären mit hängenden oder erstarrten Gesichtszügen verbale Offenbarungseide in allen Facetten als Antworten. Der unbeirrbare Bundestrainer plädierte zudem auf ein trotziges "Weiter so!", als nach personellen Alternativen gefragt wurde.
Versäumt wurde im Rahmen der Nachbearbeitung allerdings die Beleuchtung wesentlicher Aspekte der trostlosen sportlichen Vorstellung des deutschen Teams. So wurde völlig ausgeklinkt, dass es sich bei diesem Auftritt nur um einen Freundschafts- bzw. Vorbereitungskick handelte, dessen Wert in keiner Weise mit einem Pflichtspiel zu vergleichen war. Die Spieler waren, aus ihrem Liga- und Europapokaltrott herausgerissen, längst nicht so motiviert wie bei einem gut bezahlten Match unter Vereinsflagge bzw. einem Auftritt bei einem WM-Turnier.
Allerdings würden die Gescholtenen einen Teufel tun einzugestehen, dass die Ehre, im Nationaltrikot aufzulaufen, schon seit langer Zeit nicht mehr ausreicht, sich seiner Bestleistung zu erinnern und diese auch noch abrufen zu wollen. Die Vereine erhalten zwar seit geraumer Zeit ein Scherflein für die Abgabe ihrer Stars ans Adlerteam, doch die abgestellten Spieler mindestens auch die Forderung ihres Arbeitgebers mit auf den Weg, gefälligst unverletzt wieder an den heimatlichen Tisch ihres Ernährers zurückzukehren. Schließlich befinden wir uns in der wichtigsten Phase der laufenden Saison, in der die Fleischtöpfe feilgeboten werden. Eine schlechte Leistung im DFB-Trikot kann zudem recht schnell wieder – auch mit Hilfe der Medien – durch gute Leistungen im Vereinsdress kompensiert werden. Das schnelllebige Geschäft bestätigt diese Sichtweise Woche für Woche.
Dass unter diesen Vorzeichen auch einmal der schmale Grat, wie beim Auftritt gegen die Italiener, in Richtung echter Pleite verlassen werden kann, wurde plötzlich zum ungewollten Selbstläufer. Auch der kurzfristige Imageverlust – mindestens bis zum nächsten Bundesliga-Wochenende - war zwar nicht erwünscht, wird aber intern wohl letztlich unter "Betriebsunfall" abgelegt. Dass alle deutschen Spieler unter echten Wettkampfbedingungen zu anderen Leistungen fähig sein können, beweisen sie regelmäßig im Liga- und Europapokalalltag.
Man sollte das vermeintliche "Desaster" also wesentlich niedriger hängen als es aktuell geschieht. Einerseits können Balltreter der Klinsmann-Truppe ihre "Ehre" im mehr oder weniger geliebten Verein recht schnell wieder gerade rücken, andererseits besteht die Möglichkeit, in den drei verbliebenen Vorbereitungsspielen der DFB-Elf nochmals echte Flagge zu zeigen. Schließlich werden die potentiellen Kandidaten für den deutschen WM-Kader alles, und vielleicht noch viel mehr dafür tun, dabei zu sein. Dabei sein beim größten Sportspektakel dieses Jahrzehnts im eigenen Land ist nämlich die allerbeste Voraussetzung, gerade auch für junge Spieler, den eigenen Marktwert auf ein Niveau zu schrauben, das durch einen Freundschaftskick gegen Italien nie und nimmer erreichbar wäre. Zudem werden die Spieler bestmöglich darauf achten, dieses Ziel nicht durch eine Verletzung in einem "unwichtigen Spiel" zu gefährden. Diese Aspekte werden natürlich von keinem der Beteiligten auch nur andeutungsweise im Vorfeld des Turniers bestätigt werden. "Desaster" hin oder her.
Ulrich Merk