Fast 250 Spieler bestritten gleich zwei Länderspiele auf einmal - ihr erstes und ihr letztes. Ein Rückblick auf 100 Jahre DFB-Eintagsfliegen zeigt eine erstaunliche Entwicklung. Weit ehe Talent oder Klubpass entschieden, wurde man deutscher Nationalspieler auch schnell mal aus Versehen.
Die Geschichte der Nationalelf ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Zumindest für Zoltan Sebescen, jenen unglückseligen Wolfsburger, den Bodewijn Zenden am Nasenring durch die Amsterdam Arena zog und der von seinem ersten Spiel für Deutschland noch in der Halbzeitpause erlöst werden musste. Sebescen wurde nie wieder eingeladen und gilt noch heute als der Klassiker unter den Eintagsfliegen.
Allein trägt der Ex-Leverkusener diese Bürde jedoch nicht. Exakt 245 Spieler jagte der Deutsche Fußballbund genau einmal durch seine A-Elf, davon schon 170 in der Zeit von 1908 bis zum großen Bruch 1942, ehe der DFB für acht Jahre von den Bühnen Europas verschwand. Die Liste der Eintagsfliegen ist ebenso lang wie kunterbunt und reicht alphabetisch vom Leipziger Rechtsaußen Erich Albrecht, der mit der deutschen Auswahl 0:9 in England unterging (1909), bis zu Karl Zolper vom CfR Köln. Er stand im Tor, als Deutschland 1925 mit 1:2 gegen die Niederlande verlor.
Hans Lohneis wurde nachts aus dem Bett geholt
Dass es seinerzeit deftige Klatschen setzte, kam nicht ganz von ungefähr, denn zu Zeiten der Albrechts und Zolpers wurde bei der Mannschaftsbildung gern improvisiert. So lernten sich bis weit in die 20er Jahre hinein die Spieler erst in der Kabine bzw. am Abfahrtsort kennen. Sagte kurzfristig noch jemand ab, verlief die Suche nach Ersatz nicht eben wählerisch. Den Fürther Hans Lohneis beispielsweise holte man nachts aus dem Bett, weil Deutschland beim ersten Länderspiel nach dem Ersten Weltkrieg sonst nur mit zehn Mann hätte antreten können. Werner Kuhnt wiederum, 1924 deutscher Schlussmann gegen Schweden (1:4), verdankte seinen einzigen Einsatz einem Streit zwischen der SpVgg Fürth und dem 1.FC Nürnberg, deren Angestellte partout nicht miteinander spielen wollten. Dr. Peco Bauwens wurde später gar für lange Jahre Präsident des DFB. Auch er aber wäre nie zu einem Länderspiel gekommen, hätte es beim Kräftemessen mit Belgien im Mai 1910 nicht ein organisatorisches Desaster gegeben. Kurz vor dem Anpfiff zählten die Veranstalter plötzlich nur noch sieben deutsche Spieler und fragten kurzerhand im Publikum nach, ob nicht irgendjemand Lust hätte, auszuhelfen. Da die Begegnung in Duisburg stattfand, kamen neben Bauwens auch die Meidericher Alfred Berghausen, Andreas Breynck, Lothar Budzinsky und Christian Schilling zum Einsatz – zum ersten und zum letzten Mal.
Nicht weniger als fünf One-Hit-Wonder gab es auch im allerersten offiziellen DFB-Länderspiel, dem 3:5 gegen die Schweiz am 5. April 1908. Mit dabei war zum Beispiel Ernst Jordan vom FuCC Cricket-Viktoria Magdeburg, der sich gleich mit einem Eigentor disqualifizierte. Fritz Becker aber hatte noch größeres Pech. Beim Bankett nach dem Spiel schmierte ihm der Schweizer Torwart den geliehenen Smoking mit Soße voll. Die teure Reinigung trieb den Frankfurter fast in den Ruin, denn obwohl er seinem Verband das erste Länderspieltor der Geschichte geschossen hatte, verweigerte der DFB jede Hilfe. Mit der Karriere war es gleich auch vorbei.
Ein seltenes Exemplar: Max Merkel
Noch bis 1926 hatte die deutsche Nationalelf nicht einmal einen Trainer, war nur eine Quetschkommode regionaler Interessen und so kaum imstande, einen Kern, geschweige denn eine Stammelf zu bilden. Auch unter Otto Nerz und dem großen Sepp Herberger schlüpften die Eintagsfliegen allerdings weiter, zumal die Auswahl an Personal zwischenzeitlich wuchs. So brachte allein das ominöse ‚großdeutsche’ Team offizielle elf DFB-Einwegspieler hervor, die in Wahrheit eigentlich Österreicher waren. Einer von ihnen schaffte es später sogar noch zur doppelten Eintagsfliege, als er 1952 nämlich sein erstes und einziges Länderspiel für Österreich bestritt. Sein Name war Max Merkel.
Etliche Laufbahnen stoppte der Krieg, wie etwa die des Wormsers Jakob Eckert, dem man nach seiner Premiere gegen die Schweiz (1937) eine große Karriere vorausgesagt hatte und der dann an der Front fiel. Fast noch tragischer war insofern das Schicksal Fritz Baloghs. Er überstand den Zweiten Weltkrieg unversehrt und debütierte gleich im ersten Spiel nach Wiederbeginn. Kurz darauf jedoch, bei einer Auswärtsreise seines Klubs VfL Neckarau, stürzte Balogh aus dem fahrenden Zug und war tot.
Unter Helmut Schön (1964 bis 1978) formierte sich wohl die beste deutsche Mannschaft, die es je gegeben hat. Gerade in seine Ära fielen mit 17 Eintagsfliegen trotzdem mehr als in die seiner nächsten drei Nachfolger Jupp Derwall, Franz Beckenbauer und Berti Vogts zusammen. Wer in dieser Zeit von Nationalehren träumte, der hatte es nicht leicht. Uwe Kliemann zum Beispiel, baumlanger Abwehrmann von Hertha BSC, hätte in einer anderen Dekade sicher häufiger für Deutschland gespielt. Nicht anders Klaus Wunder, Achim Bäse oder Bernd Rupp, der in neun Jahren Bundesliga weit über 100 Tore erzielte, sein Debüt im DFB-Team dummerweise nur gemeinsam mit Gerd Müller feierte. Arno Steffenhagen dagegen hätte den schweren Bayern- und Gladbach-Block womöglich durchschlagen. Nach seiner Verstrickung in den großen Bundesligaskandal blieb auch seine Uhr jedoch bei genau einem Länderspiel stehen.
Sechs sind noch aktiv
Aber: Auch der FC Bayern reichte als Visitenkarte nicht zu allen Zeiten aus. So spielten Rudolf Nafziger, Kurt Niedermayer, Werner Olk und Rainer Ohlhauser ebenso nur einmal für Deutschland wie auch der große Dieter Brenninger, seineszeichens immerhin langjähriger Sturmpartner des Bombers. Als wahres Sammelbecken für Eintagsfliegen empfanden über Jahre die Fans von Werder Bremen ihren Verein. Tatsächlich umfasst die Liste mit Thomas Wolter, Olli Reck, Frank Neubarth, Bernd Hobsch, Manfred Bockenfeld und Dietmar Beiersdorfer auch sechs mehr oder weniger klangvolle Namen, doch spielten die beiden Letzteren schon vor ihrer grün-weißen Zeit ihr einziges Match für die BRD.
Die Lücke bis in die Gegenwart schließen einige klassisch Gefloppte mit noch nicht ganz vergessenen Namen wie René Schneider, Karlheinz Pflipsen und nicht zuletzt Martin Max, den erst die Medien zum Nationalspieler machten und der dann nur entwürdigende acht Minuten bekam. Aktuell gefährdet sind Hanno Balitsch, Marvin Compper, Stefan Kießling, Marcel Schäfer und Tim Wiese. Auch Marco Reich könnte dem Schicksal seiner Ahnen theoretisch noch entkommen. Er, der einst in einem Atemzug mit Michael Ballack genannt worden ist, zuletzt die Ersatzbank der Offenbacher Kickers wärmte und aktuell in der dritten englischen Liga kickt, ist einer von zwei gescheiterten Spielern, die unter dem kaum weniger glücklosen Erich Ribbeck debütierten und anschließend in der Versenkung verschwanden. Der andere heißt Zoltan Sebescen.
Maik Großmann
In schöner Regelmäßigkeit ist Fußball doch immer das Gleiche.
— Hans Meyer-Fußballspruch des Jahres 2007