DFB-Team

Ein Entwurf von Perfektion

von Günther Jakobsen14:36 Uhr | 28.06.2008

Spaniens Elf bereichert den modernen Fußball - durch ihr Offensivspiel sind sie die beste Defensive der EM. »Irgendwann wird diese Mannschaft etwas Großes erreichen«, sagte Aragonés kürzlich - und meinte damit vielleicht schon morgen.

Auch an diesem Abend ist Luis Aragonés bemüht, nicht beim Lachen erwischt zu werden. Der Regen hat ihm die Sicht genommen, er muss die von Wassertropfen besetzte Brille abnehmen und erlebt nun mit zusammengekniffenen Augen und grimmigem Gesicht am Spielfeldrand in Wien seine glücklichste Stunde als Trainer. So sieht ihn auch Chus Pereda auf dem Fernseher im Hotel Princessa Sofia in Barcelona, wo Pereda mit Freunden am Donnerstag Spaniens 3:0-Sieg im EM-Halbfinale gegen Russland verfolgt. Sie stürmten in den Sechzigern nebeneinander in der selección, der kleine Chus und der Riesenschuh Aragonés, wie er wegen seiner kräftigen Freistösse hieß, und nur weil sie nun 70 Jahre alt sind, findet Pereda, muss ihre Freundschaft nicht alterssteif werden. »Wenn ich ihn so griesgrämig sehe, bombardiere ich ihn mit SMS-Nachrichten: Lachen, Luis, LACHEN!«

Selten hat solch ein verbiestertes Gesicht ein Land so zum Lachen gebracht. Die Fußballwelt hatte es sich schon bequem gemacht mit ihrem Pauschalurteil, dass Spanien doch bei jeder EM oder WM so schön wie nie spiele und dabei so dramatisch wie immer versage. Nun stehen sie im Endspiel am Sonntag in Wien gegen Deutschland. Es kann natürlich sein, dass sie sich das Drama diesmal nur bis zum Ende aufgehoben haben, so wie vor 24 Jahren, als sie zuletzt im EM-Endspiel standen und Frankreich wegen eines unbegreiflichen Torwartfehlers von Arconada 1:2 unterlagen. Eine finale Niederlage würde allerdings wenig an der Außergewöhnlichkeit dieser Elf ändern.

»Ohne einen Gramm Arroganz«

Mehr als jede andere Nationalelf hat dieses Spanien die klassischen Schönheiten des Fußballs wie den anmutigen Pass bewahrt und mit den modernen Anforderungen an Tempo und Taktik vereint. Sie machen die Klagen lächerlich, heute gebe es keine Spielmacher, keine Typen, keine Straßenfußballer mehr. Diese Elf beweist, dass es heute etwas viel Besseres gibt: Kinder aus den Fußball-Akademien wie Xavi, Cesc Fàbregas oder David Villa, die technisch und strategisch mindestens auf dem Niveau all dieser Straßenfußballer sind und die ohne den Egoismus und das Ätzende der Maradonas, Effenbergs, Bernd Schusters auskommen. Sie sind ein Beweis: Sieger können wohl erzogen, unkompliziert sein; liebenswert.

Bevor sie zur EM aufbrachen, bekamen sie im Trainingslager bei Madrid Besuch von alten Männern. Spaniens einzige Europameister, die Mannschaft um Chus Pereda von 1964, traf sich mit ihnen, damit die Spieler von heute einmal plastisch vor Augen geführt bekamen, doch, das gibt es: spanische Sieger. Wobei er nicht wüsste, sagt Pereda, wie die Jungen in ihnen noch den Glanz von damals erkennen konnten: »Wir sehen ja heute aus, als kämen wir gerade aus dem Russland-Krieg«, und überhaupt »denken die Jungs doch, wir hätten damals mit quadratischen Bällen gespielt«. Wenn man dabei seine Stimme hört, denkt man, er sei selber gerade wieder ein Junge geworden, so lebendig macht ihn die Erinnerung an das Treffen. »Du hast gespürt, wie vereint die heutige Mannschaft ist, wie entschlossen und überzeugt, ohne einen Gramm Arroganz.«

Die Einheit dieses Teams stammt aus der Erziehung in den Fußball-Internaten. Außer dem dritten Torwart ist kein Spieler älter als 28, die alten Krieger wie Rekordtorschütze Raúl sind verschwunden, die in den Achtzigern groß wurden, als die Helden Rambo hießen und ein Mann seinen Weg rücksichtslos gehen musste. Heute leiden Klassespieler wie Xabi Alonso oder Fàbregas auch an ihrer Ersatzrolle, aber - so hat man sie erzogen - sie leiten ihren Frust einzig in umwerfende Auftritten wie gegen die Russen um, als sie dann spät ins Spiel kamen. »Irgendwann wird diese Mannschaft etwas Großes erreichen«, sagte Aragonés und dann erst fiel ihm ein, was sie gerade geschafft hatte, »und -, gut, also, jetzt steht sie ja schon im EM-Finale.«

Die beste Defensive der EM

Die zweite Halbzeit gegen Russland, als sie nicht aufhörten zu kombinieren und anzugreifen, war Spaniens Entwurf von Perfektion. Sie haben dem Fußball etwas Neues geschenkt: den Kombinations-Konter. Selbst wenn sie schnell kontern, wie beim Tor zum 2:0, bauen sie da noch Kombinationen mit Passen und Stoppen ein. Die Lehre des Fußball sagt, das gehe nicht: langsam zu kontern. Sie können es. Sie verbinden das beste aller Welten. Sie sind etwa die beste Defensive der EM durch Offensivspiel.

Spanien, dessen Klubs beständig unter den Weltbesten weilen, wurde ein anderes Land, während es auf solch eine Elf wartete und wartete. Als sie 1964 das einzige Mal Europameister wurden, herrschte noch Diktator Franco. Chus Pereda hatte damals Spaniens erstes Tor beim 2:1 im Finale über die Sowjetunion erzielt und die Flanke zum zweiten gegeben, aber »als ich ins Kino ging, um die Tore in der Tagesschau zu sehen, kam die Flanke zum zweiten Tor plötzlich von Amancio«. Beim Filmschneiden war Peredas Vorlage versehentlich verschwunden, so wurde sie einfach durch eine andere ersetzt. »Protestieren durfte ich unter Franco ja nicht«, sagt er.

44 Jahre später standen die Wirtschaftswunderkinder der spanischen Demokratie in der Donnerstagnacht im Bauch des Wiener Stadions, und wer will, kann ihre gute Erziehung, ihren Gemeinschaftssinn als Errungenschaft des neuen Spaniens preisen. Joan Capdevila, ihr famoser linker Verteidiger, gab seinem Kollegen Santiago Cazarola zur Feier des Finaleinzugs erst einmal eine spielerisch sanfte Ohrfeige; irgendwo musste der Übermut doch hin. »Weißt Du, was das Schönste ist, das der Fußball mir gab?«, fragte er dann. Dieses Endspiel? Er schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Nichte, und wenn ihre Mutter, also meine Schwester, sie fragt: ,Was macht der Onkel?’, dann ruft sie: ,Tor!’« Seine Augen waren wässrig vor Glück. Und jetzt gegen Deutschland, brüllte jemand aus dem Hintergrund. »Ach«, sagte Capdevila, »Deutschland kann bis morgen warten.«

Ronald Reng

11Freunde-Online



Heute war ein Tick mehr drin als vergangene Woche.

— Hamburgs Offensivspieler Aaron Hunt nach dem 2:3 bei Mainz 05, dem sechsten Bundesligaspiel des HSV ohne Sieg in Serie.