Jeder kann (nicht) Jeden

von Günther Jakobsen14:30 Uhr | 12.06.2016
Könnte nochmals eine entscheidende Rolle bei diesem Turnier spielen: Andres Iniesta (Spanien)

Den Titelverteidiger hat das „Losglück“ in eine Gruppe verschlagen, in der es wohl am Ende auf die jeweilige Tagesform ankommen könnte. Zwar setzten sich Tschechien und die Türkei (gemeinsam mit Island) gegen den vermeintlichen Hochkaräter Niederlande in ihrer Qualifikation durch, glanzvolle Auftritte aber fehlten nahezu gänzlich. Auch Kroatien hatte in seiner schwachen Gruppe einzig in den ebenfalls wenig überzeugenden Italienern eine Herausforderung zu überstehen. Spanien lavierte sich zuletzt gleichfalls überwiegend mit mühsamen 1:0-Erfolgen vorwärts und unterlag in der EM-Generalprobe Georgien mit demselben (diesmal tatsächlich: blamablen) Resultat.




Nicht nur aus diesen Gründen wird Spanien nicht durchweg als Top-Favorit gehandelt. Der vom langjährigen National-Trainer Vicente del Bosque eingeleitete Umbruch befindet sich aktuell bestenfalls in der „vorderen Phase“. Ein Xavi, ein Xabi Alonso sowie ein Fernando Torres in guter Form sind aktuell noch nicht zu ersetzen. Die Helden von einst nur etwas in die Jahre gekommen (alle um die 30), wobei jedoch vor allem die Abwehrkräfte Sergio Ramos, Piqué und Jordi Alba und der wohl als Rechter Verteidiger gesetzte Juanfran immer noch auf hohem Niveau agieren (können). Auch Abräumer Busquets ist noch nicht zu ersetzen. Bei den Kreativkräften Iniesta und Koke im zentralen Mittelfeld sowie Thiago und Fabregas als deren punktuell gleichwertige Konkurrenz wird es liegen, ob die Spitzen Morata oder Spätstarter Aduriz aus Bilbao gut versorgt werden. Hoffnungen ruhen ebenso auf den Außen Lucas Vasquez, Pedro, David Silva und Nolito. Auf dem Papier birst die Mannschaft also geradezu vor klangvollen Namen, auf dem Platz aber agierten die honorigen Protagonisten oft eher zurückhaltend, viele sagen: gesättigt. Nahezu alle Akteure haben bereits große Titel im Portfolio und benötigen scheinbar eine Zusatzmotivation. Selbst die einheimischen Presseleute zweifeln diesbezüglich an den Fähigkeiten des gemütlich wirkenden Coaches. Bei der letzten WM war auch deshalb in der Vorrunde sensationell Feierabend. Die Iberer sind bei dieser EM unter normalen Umständen aber doch ein ernster Mitfavorit, könnten aber wie eine launische Diva auch diesmal erneut im Abseits landen.

Zumindest scheinen zwei der Gegner des vermeintlich großen Favoriten nach Qualifikation, Testspielen und aktueller Befindlichkeit keine übergroßen Aufgaben darzustellen. Vor allem die nur mit Ach und Krach gegen völlig indiskutable Holländer siegreichen Türken werfen zwar großen Optimismus in ihre Außendarstellung, doch bei ihnen sieht die Realität auf dem Rasen um Dimensionen durchwachsener aus. Trainer Fatih Terim und seine Truppe standen bereits über die gesamte Quali hinweg bei Anhängern und heimischer Presse tief in der Kritik, boten realistisch kaum Hoffnung auf ein gutes Abschneiden in Frankreich. Während die Abwehr in der Regel internationalen Maßstäben standhält, baut man in Mittelfeld und Angriff auf Geistesblitze oder Freistöße von Bayer-Spezialist Calhanoglu oder dem bei Barca nur spärlich eingesetzten Arda Turan. Wohl zu wenig, um bei dieser EM zu überraschen. Auch Tschechien musste sich trotz Quali-Gruppensieg mit eher mittelmäßigen Auftritten zufrieden geben (die anderen waren halt noch schwächer). Immerhin sucht die Formation von Trainer Pavel Vrba oft konsequent den Weg nach vorne, wurde dabei aber in der Rückwärtsbewegung über die Maßen anfällig. Ob die Abhängigkeit vom Langzeitverletzten Tomas Rosicky (immerhin 35), der allerdings rechtzeitig wieder fit scheint, ebenfalls fruchten wird, ist so offen wie nie zuvor. Wesentlich mehr Aussichten wird dagegen dem Team aus Kroatien eingeräumt. Über die zweifelsohne ausgeprägte Zweikampfstärke wollen die Männer vom Balkan ihre Dynamik und zweifelsohne guten technischen Fähigkeiten einbringen. Vor allem in der Offensive könnten dann über die Achse Modric-Rakitic (Real-Barca) die gefährlichen Pjaca, Perisic und Mandzukic zu entscheidenden Akteuren avancieren. Sollte sich die ab und wackelige Innenverteidigung bei diesem Turnier zudem als stabiler als bisher erweisen, könnten sich die Kroaten lange im Turnier halten. Es wäre nicht das erste Mal.

Als Fazit bietet sich offensichtlich eine Zweiteilung der Gruppe D in Spanien/Kroatien für die Favoritenrolle sowie Tschechien/Türkei für den eher nicht so hoch einzuschätzende Part an. Der Grad der Labilitäten innerhalb der vier Teams dürfte am Ende allerdings eine nicht unmaßgebliche Rolle spielen. Die psychologische Verarbeitung nach einer etwaigen Start-Niederlage kann somit gerade in dieser Gruppe der launigen Mannschaften ausschlaggebend für die Chancen aufs Weiterkommen sein.

Ulrich Merk



Ich war auch die B-Lösung und wir haben das Double geholt.

— Niko Kovac als Trainer von Bayern München.