Die Fieberkurve der Hannover 96-Historie weist eine beachtliche Bandbreite von Ausschlägen nach oben wie nach unten aus. Letztes Jahr ging´s nur in eine Richtung: Steil nach oben. Eine entscheidende Figur aus der Aufstiegssaison ist gegangen: Jan Simak. Ein anderer Tscheche, Neuverpflichtung Jiri Stajner, könnte wesentlich dazu beitragen, Hannover in der Bundesliga zu etablieren.
Die letzte Saison…
…entledigte sich der niedersächsische Traditionsklub eindrucksvoll der lange kultivierten Konturlosigkeit eines Provinzvereins und setzte Maßstäbe für die Zweite Liga. Bei 18 Teilnehmern (es gab Saisons mit 20 und sogar 22 Vereinen) konnte noch keiner am Saisonende 75 Punkte (22 Siege, neun Unentschieden) und eine Tordifferenz von plus 56 aufweisen (96:37). Die 96er boten über eine komplette Saison hinweg konstant gute bis herausragende Leistungen und lösten in der zweiten Hälfte der Meisterschaft den bis dahin souveränen Tabellenführer Mainz 05 an der Tabellenspitze ab. Lediglich dreimal, beim VfL Bochum (2:4, 21. Spieltag) und in der Schlussphase gegen Eintracht Frankfurt (1:2, 31. Spieltag) und Arminia Bielefeld (2:3, 33. Spieltag), als der Aufstieg sicher war, verloren die Rangnick-Kicker. Der mit 18 Treffern erfolgreichste Goalgetter der 96er Jan Simak sorgte für Aufsehen auf (meist positiv) und neben (meist negativ) dem Platz. „Ich will weg und wenn Hannover 96 nein sagt, haben wir hier Krieg", so die gröbste Verbalkeule des Tschechen. Nun, der Waffengang konnte vermieden werden. Trotz lange Zeit mit dem „unverkäuflich“-Stempel markiert, durfte Simak den Klub für eine 6,5 Millionen Euro-Ablöse `gen Leverkusen verlassen. Als „Vater“ des Aufstiegserfolges muss zweifellos Trainer Ralf Rangnick angesehen werden, der erst in der vergangenen Saison seinen Job in Hannover antrat. Sicherlich trug der Erfolg der 96er auch dazu bei, Hannover als WM-Standort 2006 durchzusetzen.
Die Neuen und der Kader
Der Sprung in die Bundesliga hat in Hannover für einen regen Personalaustausch gesorgt. Elf Akteure haben den Verein zum Saisonende verlassen, wobei im Fall des Keepers Carsten Wehlmann (zum HSV zurück) noch die Möglichkeit der Rückkehr nach Hannover besteht, sollten die 96er Bedarf anmelden. Der angestrebte Zugang des Unterhachinger Torwarts Gerhard Tremmel ist noch nicht in trockenen Tüchern, da derzeit um die Frage einer Ablösesumme gestritten wird. Keine Frage ist hingegen, wer zum Bundesligastart im Kasten steht: Jörg Sievers. Seit 1989 spielt der 36-Jährige für die „Roten“ und kennt die Hannoveraner Variante von „Gute Zeiten“ (DFB-Pokalsieg 1992) und „Schlechte Zeiten“ (Regionalliga 1996 bis 1998) persönlich. Die „Besten Zeiten“ will er jetzt in der Bundesliga feiern. Für die Defensive wurden noch Kai Oswald (von Hansa Rostock), Markus Schuler (von Mainz 05) und Guido Gorges (von Schweinfurt 05) verpflichtet. Julian de Guzmann (von Saarbrücken) und Kosta Rodriguez (Eintracht Braunschweig) sollen Alternativen im Mittelfeld darstellen, während Blaise N` Kufo (Mainz 05), Mohamadou Idrissou (vom SV Wehen) und Jiri Stajnar (Slovan Liberec) als Stürmer die nötige Treffersicherheit mitbringen sollen. Jiri Stajnar gilt als größter Hoffnungsträger unter den Neuverpflichtungen. In der Vorbereitung zeigte sich, dass der Tscheche große Qualitäten als Vorbereiter und Spielmacher besitzt, so dass seine künftige Rolle, anders als geplant, durchaus im Mittelfeld vorstellbar ist. Ein sportlich schmerzhafter Verlust ist sicherlich der Weggang des Jan Simak. Stajner zeigt jedoch gute Ansätze, diese Lücke zu füllen. Weitere wesentliche Ausfälle sind nicht zu verzeichnen, so dass Ralf Rangnick trotz erheblicher Fluktuation immer noch über ein im Kern gewachsenes Team verfügt.
Der Talentspäher
Nach 13-jähriger Bundesligaabstinenz wird in Hannover wieder Erstligafußball geboten. Allerdings nicht im Niedersachsenstadion, denn dieses wurde, einem Trend neuer Vermarktungsmöglichkeiten folgend, sponsorengerecht umgetauft: AWD-Arena lautet der aktuelle Name der 96er-Heimstätte. Ein neuer Name ist auch in der Vereinsführung zu verzeichnen: Ricardo Moar, von Deportivo La Coruna gekommen und als Sportdirektor verpflichtet. Die Hauptaufgabe des in Lippstadt geborenen Spaniers liegt in der Sichtung und Verpflichtung von für den Bundesligakader interessanten Spielern. Auf der Referenzliste der Entdeckungen des speziell als Südamerika-Experte geltenden Moars stehen die spanischen Nationalspieler Diego Tristan und Juan Carlos Valeron, sowie Brasiliens Weltstar Rivaldo. Keine schlechte Empfehlung. Sollte Moars „Näschen“ nicht im vergleichsweise kühlen norddeutschen Klima unter Ausfallerscheinungen leiden, wird sein Riecher Hannover künftig mit fußballerischen Volltreffern versorgen und, vergleichbar seinem La-Coruna-Werdegang, zu respektablen sportlichen Erfolgen verhelfen. So jedenfalls sähe der Idealfall aus. „Träumen dürfen die Fans, wir müssen am Tag arbeiten“, hat zumindest Moar den Blick fürs Wesentliche behalten. Und das heißt für Hannover 96: In der ersten Saison geht´s nur um den Klassenerhalt. Damit der Klub nicht aufgrund einer Fehleinschätzung wieder für längere Zeit in der Zweitklassigkeit verschwindet.
André Schulin
Die Hannover 96-Daten
Ein Tor mehr zu erzielen, als man selbst bekommt, ist immer noch besser als ein 1:0.
— Gottfried Weise, Eurosport-Reporterlegende.