Das Erreichen eines WM-Viertelfinales ist pauschal ein Erfolg - es sei denn, alles andere als der Titelgewinn wird als Versagen betrachtet (Brasilien), oder das Ausscheiden fällt ausgesprochen deftig aus (Argentinien).
Das Wunder blieb aus. Argentinien hatte sich mühsam durch die WM-Qualifikation gekämpft und hoffte darauf, dank seiner unbestreitbar hochkarätigen Offensivpower und der als Supervisor fungierenden Person Diego Maradonas einen Podestplatz beim Treffen der Weltelite einzunehmen. In der Gruppenphase wurde die Celeste diesen Erwartungen gerecht. Weitaus mehr fußballerisches Potenzial als die meisten anderen Topteams blitzte bei den Auftritten der Argentinier auf. Dass Weltfußballer Messi kein Torschussglück hatte, schien lediglich ein kleiner Schönheitsfehler. Im Achtelfinale, gegen Mexiko, stand das Glück zur Seite, als ein Abseitstreffer und ein bizarrer Torwartschnitzer das Spiel in für Argentinien günstige Bahnen lenkte. Die 0:4-Viertelfinalpleite gegen Deutschland offenbarte dann das Manko dieser Mannschaft: Ein gravierender Mangel an taktischer Flexibilität. Dies mag Maradona erkannt haben, als er mit den Worten: „Ich habe alles gegeben, was ich konnte“, seinen Rücktritt erklärte. Die Demontage nahm den einstigen Ausnahmespieler erkennbar mit. Immerhin: In Argentinien wurden Mannschaft und Trainer nicht öffentlich zerrissen - im Unterschied zur brasilianischen Selecao.
Neben Spanien galten die Brasilianer als Topfavorit auf den Titel, im eigenen Lande wurde der sechste WM-Triumph schon fast als Selbstverständlichkeit gesehen. Vor diesem Hintergrund erklären sich die harschen Reaktionen auf das Viertelfinal-Aus gegen die Niederländer fast von selbst - zumal die 1:2-Niederlage alles andere als zwingend war. Mit einer 1:0-Führung im Rücken, gerade als die Selecao Ansätze von Spielfreude vermittelte, verlor die Mannschaft durch einen überflüssigen Gegentreffer vollkommen die Fassung, was durch einen Gegner vom Format der Holländer natürlich ausgenutzt wurde. Ein derartiger Zusammenbruch einer Elf, die bis dahin ein fußballerisches Pflichtprogramm absolviert hatte, konnte nur in der Entlassung des ohnehin kritisierten Trainers Carlos Dunga enden. Ein positiver Aspekt kann diesem enttäuschenden Auftritt abgewonnen werden: Bei der in vier Jahren in Brasilien stattfindenden WM muss die Selecao ein anderes Profil haben. Im eigenen Land wird neben dem Erfolg auch sportlicher Glanz erwartet.
André Schulin
Sie sind die zweitbeste Mannschaft der Welt, und es gibt kein größeres Lob als das.
— Kevin Keegan