Nachdem sie personell fast ausgeblutet wäre, bekam Hertha BSC noch so eben eine Mannschaft zusammen und überraschte zu Anfang nur positiv. Gegen die vielen Verfehlungen der letzten Jahre erwies sich auch der neue Trainer jedoch als machtlos. Auf der verzweifelten Suche nach Identität, Konstanz und einer Spielkultur blieb der schlafende Riese Berlin einmal mehr im Mittelmaß stecken.
Oft genug schon schien Herthas Kader wie mit verbundenen Augen zusammengestellt, diesmal aber rotierte das Karussell richtig. Fast eine komplette Mannschaft ließ die Klubführung ziehen, darunter so markante Gesichter wie Gimenez, Neuendorf und Bastürk, aber auch Talente a la Dejagah und die Gebrüder Boateng, die man mühsam aus dem eigenen Nachwuchs herangezüchtet hatte. Gefüllt wurden die Lücken vor allem mit Masse sowie mit der Hoffnung, dass aus dem Fundus von Namen wie Lucio, Lustenberger, Grahn oder Lima zumindest einer so einschlagen könnte wie im Vorjahr Marko Pantelic. Woran schon Einige vor im gescheitert waren, das sollte nun ein renommierter, aber unverbrauchter Trainer richten, nämlich der zusammengewürfelten Mannschaft eine Seele einzuhauchen. Noch kurz vor Saisonstart erkannte Lucien Favre die Lage zwar als aussichtslos und wollte die Hauptstadt wieder verlassen. Als er zum Bleiben überredet war, hatte er dann jedoch wenig zu verlieren und verblüffte sich selbst mit einem fabelhaften Start. Gleich die ersten drei Heimspiele konnte Hertha gewinnen und fühlte sich nach langer Zeit einmal wieder richtig sexy: Mit zwölf Punkten aus den ersten sechs Spielen blies Berlin zur Bayern-Jagd.
Was ohnehin klar gewesen war, kam umso nackter bald ans Licht, denn auf den zweiten Tabellenplatz gehörte die Alte Dame nicht. Der Absturz begann in einer englischen Woche. Statt zumindest über Nacht an den Bayern vorbei zu ziehen, kassierten die Herthaner gegen Außenseiter Rostock ein 1:3 und ließen sich drei Tage später direkt auch auf Schalke bezwingen (0:1). Nun waren Gelassenheit und ein ruhiges Umfeld gefragt. Beides aber gab es in der Hauptstadt nicht, weil erstens die Erwartungen wie immer riesig waren und zweitens die Mannschaft in ihrer heterogenen Struktur kaum zu einer Einheit fand. Pantelic im Sturm und Kapitän Friedrich in der Abwehr, mit Abstrichen auch Josip Simunic, fungierten als Säulen. Alle übrigen Spieler blieben austauschbar, besonders nachdem sich der Brasilianer Lucio schon Ende September mit einem Totalschaden im Knie wieder abmeldete; er hatte der Mannschaft bis dahin gut getan. Nach einem 0:0 gegen Cottbus (9. Spieltag) verlor man die Hertha allmählich aus den Augen. Zwischen knappen Pleiten in Bremen (2:3) und Hamburg (1:2) reichte es zu strohtrockenen Dreiern über Bochum und 96, was ein schlimmeres Abdriften verhinderte; die übliche Pokalblamage (0:2 in Wuppertal) setzte es zwischendrin auch. Der Zauber des rastlosen Favre, schon im Herbst hatte er sich wieder verbraucht, Herthas Spiel war nicht mehr mitreißend und schon gar nicht mehr ertragreich. Drei Pleiten in Folge, darunter ein 0:3 gegen Leverkusen, sowie ein trostloses 0:0 gegen die Bayern ergaben zu Weihnachten gerade eben Rang zwölf und brachten die Klubführung erneut ins Rudern. In der Winterpause daher spielte Dieter Hoeneß wieder fleißig Blinde Kuh. Einen Brasilianer, einen Serben und einen Bulgaren sowie kurz vor Toreschluss noch einen Amerikaner und einen Tschechen zog der umstrittene Manager an Land. Die Hoffnung auf einen Glücksgriff, sie stirbt an der Spree also nicht aus. Wann jemals aus Hertha eine Mannschaft werden soll, wird auch die Rückrunde allerdings wohl nicht verraten.
Maik Großmann
Ich habe Herrn Assauer nie als Kaschmirproleten bezeichnet. Ich habe Herrn Assauer Kaschmirhooligan genannt.
— Michael Meier