Quälend lange war das zweite Viertelfinale ein einziger Grottenkick zwischen gehemmten Kroaten und völlig mittellosen Türken. Kurz vor Schluss der Verlängerung aber kam es zur Explosion, als erst Klasnic das vermeintliche Siegtor erzielte (119.) und genau so plötzlich Semih sofort wieder ausglich (120.). Völlig konsterniert trat Kroatien zum Elfmeterschießen an und fiel dort endgültig in sich zusammen – Deutschlands Gegner im Halbfinale wurde überraschend die Türkei.
Während Slaven Bilic sein Team wieder auf die A-Elf zurückkrempelte, baute sein türkischer Kollege völlig unfreiwillig um. Gleich vier Stammspieler fehlten Fatih Terim verletzt oder gesperrt, darunter die komplette Innenabwehr. Wie erwartet stach Kroatien sofort in diese Wunde hinein bzw. war sichtlich bemüht, als erster die Lauerstellung aufzugeben. Modric wagte nach drei Minuten einen verunglückten Abschluss, ehe nach Rakitics Hereingabe Emre einen Rüstü-Fehler ausbügeln musste (6.). Auf der anderen Seite kam Altintop zweimal zu einem bemerkenswert strammen Schuss. Dann recht plötzlich, mit Ablauf einer Viertelstunde, gerieten die Türken in gehörige Schwulitäten, da Kroatien vor allem über den fleißigen Pranjic mehrmals hintereinander bis zur Grundlinie durchkam. Ausnahmsweise über rechts entstand indes die größte Chance des erstens Durchgangs, vorbereitet von Modric, dessen lange Hereingabe flach vor den Fuß von Olic fiel. Der Hamburger jedoch knallte das Leder spektakulär aus drei (!) Metern an die Latte (19.). Mit dem Nichtverwerten dieser Gelegenheit näherte sich die Bilic-Elf dem Gegner wieder an, besonders im Hinblick auf den Fehlerquotienten. So kam es, dass statt dessen den Roten fast noch das Führungstor gelang, als nämlich ein Topal-Schuss aus 28 Metern hauchdünn am Tor vorbeizischte (38.). Auch ein Elfmeter stand zudem zur Debatte. Den Buckel, mit dem Simunic sich Tuncay in den Weg stellte, fand der insgesamt überzeugende Roberto Rosetti jedoch nicht weiter bedenklich (36.).
Kurz nach Wiederanpfiff legten die Türken sich fast ein Ei ins Nest. Zuerst patzte wieder Volkan-Vertreter Rüstü schwer, faustete bei einer Kopfballrückgabe daneben und überließ das Spielgerät Olic. Dann machte noch Emre Asik dieselbe Szene wieder gefährlich, als er den schon geklärten Ball unterlief (51.). Als sechs Minuten später noch Kranjcar einen Flachschuss abfeuerte, wirkten die Kroaten wieder stattlich überlegen, nur irgendwie auch seltsam gehemmt, um das fällige Tor konsequent zu erzwingen. Olic traf immerhin aus dem Abseits (63.), bevor dann Rakitic nach einem Doppelpass in die Wolken schoss (69.). Inzwischen war recht klar, dass die Türken die Restspielzeit aussitzen wollten. Kaum noch ein Konter, geschweige denn ein gefährlicher Schuss – im gesamten zweiten Durchgang hatten sie ihre Hälfte so gut wie nicht verlassen. In den letzten Momenten aber drohte der Plan noch zu scheitern. Ausgerechnet Rüstü wurde hier zum Retter, als er einen kaum haltbaren Srna-Freistoß aus dem Winkel schaufelte (84.) und dann, noch in der 90. Minute, aus kurzer Distanz gegen Olic parierte. Kein Mal schossen die Türken in der zweiten Halbzeit aufs Tor und mogelten sich dennoch nun in die Verlängerung einer bis hierhin fürchterlich schwachen Partie.
Tatsächlich wäre es dort dann fast passiert: Tuncay tankte sich bis zur Torauslinie durch und knallte von dort einfach drauf, was Pletikosa zu einer wachen Parade zwang (94.). Auch Semih wagte in Minute 100 dann einmal einen Schuss, dem Tuncay direkt noch einen draufsetzte (103.). Mehr aber passierte danach nicht, zumindest bis zur 119. Minute, als das eigentlich beschlossene Elfmeterschießen scheinbar noch platzte: Rüstü rannte wie von Sinnen aus dem Tor und jagte einem ins Aus trudelnden Ball hinterher, bemerkte aber nicht den immer noch quirligen Modric. Als dieser über den Torwart hinweg flankte und der eingewechselte Klasnic den Ball ins Netz einnickte, stand die Partie vor einem märchenhaften Ende. Im Rausch der Sinne aber zahlte Kroatien Lehrgeld, denn einen Angriff hatten die Türken noch. Noch von Rüstüs Fuß kam der Ball im hohen Bogen zu Semih, der alle Abwehrspieler narrte und trotz Bedrängnis wahrhaftig in den Winkel schoss – in der letzten Sekunde des Spiels (120.). Das folgende Elfmeterschießen glich so ausnahmsweise nicht mehr einem Roulette, sondern wurde nur zum tragischen Abgesang der so hochgelobten Deutschland-Bezwinger. Sowohl Modric als auch Rakitic setzten ihre Bälle neben das Tor, ehe dann Rüstü auch noch Petrics Schuss parierte und zum seltsamen Helden dieses langen Abends wurde. Nach einem denkwürdigen Finish siegte die Türkei, nachdem sie schon in den Gruppenspielen jedes Mal spät gejubelt hatte, schließlich offiziell mit 4:2 n.E. und buchte so glücklich wie überraschend das Semifinale gegen Deutschland.
Maik Großmann
Fair Play im Fußball? Das ist mir auch schon ein paar Mal begegnet.
— Ansgar Brinkmann