Der Test gegen Serbien gilt vor allem als Bewährungsprobe für Torhüter Jens Lehmann und Abwehrchef Christoph Metzelder. In der Offensive dagegen unterscheiden sich die vielen sehr guten Stürmer nur noch durch die Rückennummer. Philipp Selldorf aus der 11Freunde-Redaktion führt uns die Brennpunkte vor dem Test auf.
Am Freitagnachmittag hat die Nationalmannschaft ihr Quartier auf Mallorca verlassen, um die letzte Etappe vor dem Aufbruch ins EM-Camp im Tessin zu absolvieren. Am Samstag steht in Gelsenkirchen der abschließende Test gegen Serbien bevor, selbstredend erwarten alle Mann, dass es ein besonders schweres Spiel gegen einen besonders starken Gegner wird, wie das halt immer behauptet wird, selbst wenn der Gegner Tonga heißt. Für wenigstens zwei Spieler im Team hat diese Generalprobe allerdings tatsächlich Ernstfallcharakter. Den Examensdruck haben sich Torwart Jens Lehmann und Innenverteidiger Christoph Metzelder durch ihre bedenklichen Auftritte am Dienstag gegen Weißrussland selbst bereitet.
Lehmann auf Wählerfang
Seit der Nominierung des Leverkusener Aufsteigers René Adler und einigen mehrdeutigen Formulierungen des Bundestrainers ist Lehmanns Status in Frage gestellt. Erstaunlicherweise gibt es zwar im Fußball noch kein Barometer der öffentlichen Meinung wie in der Politik, doch wenn es eins gäbe, dann hätte man jetzt die typische Ausgangslage einer Volkspartei, die berechtigte Hoffnungen auf den Wahlsieg hat, aber plötzlich an einer sensiblen Stelle in Gefahr gerät:
Jens Lehmann, seit 2006 Spitzenkandidat der deutschen Torhüter, verzeichnet auffällig sinkende Zustimmung. In zwei von drei Länderspielen dieses Jahres war seine Leistung nicht gut, wodurch seine unfrohe Saison beim FC Arsenal wieder stärker ins Bewusstsein rückte. Die Parteiführung - respektive die sportliche Leitung des Nationalteams - spricht ihm daraufhin das Vertrauen aus, weil sie natürlich weiß, dass alles andere ihn und das ganze Unternehmen erheblich schwächen könnte.
Trotzdem muss sie im Hintergrund einen Notplan entwickeln, und darüber wird nach der Partie in Gelsenkirchen womöglich noch zu reden sein. »Wir sind absolut überzeugt davon, dass Jens Lehmann wieder in Form kommt«, erklärte zwar am Freitag Joachim Löws Assistent Hans-Dieter Flick im Namen des Trainerstabs. Aber er hielt es auch für angebracht, auf den Nutzen einer vorzeigbaren Leistung hinzuweisen (»es ist nicht egal, wie er spielt«), und außerdem erwähnte er, dass Adler und Robert Enke »tolle Trainingsleistungen« vollbracht hätten.
»Da ist von hinten Druck«, setzte er fort und wollte das als Ansporn für die Nummer eins verstanden wissen. Erfahrungsgemäß tendiert Lehmann ein wenig zur Selbstgewissheit, was auf Kosten seiner Konzentration gehen kann - zu beobachten am Dienstag gegen Weißrussland.
Westermann auf Wolke sieben
Während Lehmann sich als einsamer Torsteher naturgemäß nur selbst helfen kann, hat es Christoph Metzelder auf seinem Posten zwischen den Mitspielern Per Mertesacker und Marcell Jansen ein wenig leichter. Metzelder müsse auf Mallorca »mehr tun als andere« und »zusätzlich arbeiten« hatte Joachim Löw vor einer Woche verlangt, dem Auftrag ist er angeblich gefolgt. »Er hat individuelle Einheiten bekommen, daher sind wir guter Dinge, dass er am 8. Juni« - dem Tag des deutschen Gruppenspiels gegen Polen - »bei 100 Prozent ist«, erläuterte Flick.
Von dieser absoluten Mehrheit war Metzelder beim letzten Einsatz weit entfernt, eher sah es nach dem Wert einer Splitterpartei aus. In Gelsenkirchen sollte er sich dem Maximum zumindest nähern. Alternativ kann Löw sonst einen Einheimischen präsentieren, zumal da der Schalker Verteidiger Heiko Westermann, 24, derzeit in beneidenswerter Lage ist: »Man lebt ein bisschen auf Wolke sieben, und den Schub versuche ich natürlich mitzunehmen«, berichtet Westermann - am Dienstag ist er Vater geworden.
Am Mittwoch kehrte er zum Team zurück und wurde seitdem im Training auf verschiedenen Abwehrpositionen geprüft, auch auf seinem alten Stammposten in der Innenverteidigung. Über Metzelder spricht Westermann mit Hochachtung (»eine absolute Respektsperson«), aber Lust hätte er trotzdem, an dessen Stelle zu spielen: »Ich bin ja nicht hier, um mich auszuruhen«, sagt er, »natürlich wäre es für mich ein Traum, in Gelsenkirchen ein Länderspiel zu machen.«
Luxusproblem im Sturm
Im Gegensatz zu Westermann kann sich Kevin Kuranyi einigermaßen sicher sein, dass er in Schalke ein Heimspiel bestreiten darf. Wie er es schon während der ganzen Woche im Training getan hat, will Löw gegen Serbien seine Sturmvarianten testen. Miroslav Klose und Lukas Podolski waren gegen Weißrussland an der Reihe, nun folgt das Paar Kuranyi und Mario Gomez. Was die Stürmer angeht, hat Löw ohnehin nur eine Sorge: Wie erkennt er, wer gerade die beste Tagesform hat? Im Angriff, sagt der Fachmann Oliver Bierhoff, sei die deutsche Mannschaft »im Vergleich mit den vergangenen Turnieren so gut aufgestellt wie lange nicht mehr«.
Klose hat zwar Anspruch auf Vorzugsbehandlung, aber er ist doch nur der erste unter Gleichen - und ansonsten ist die Besetzung der Offensive ziemlich offen. »Wir legen uns da nicht fest«, sagt Flick genüsslich. Auch Michael Ballack weiß den Wert dieses Luxus’ zu schätzen (»im heutigen Fußball machen die guten Stürmer meistens den Unterschied«), aber der Kapitän verbindet das Thema auch mit einer Botschaft an die Defensivabteilung: »Auf Dauer kann man nicht immer 4:3 oder 5:4 gewinnen.«
Philipp Selldorf
11Freunde-Online
Wer hinten steht, hat das Pech der Glücklosen.
— Helmut Schulte