Werder wie im Rausch

von Günther Jakobsen10:29 Uhr | 23.02.2006

Von einem ‚Wunder von der Weser’ habe er noch gehört, sagte Fabio Capello vor dem Spiel, und ohnehin glaube er auch nicht an solche Dinge. Zumindest die tiefere Bedeutung des Bremer Fachjargons sollte Juves Trainer dann kennen lernen. Denn gerade als Werder der abgebrühten ‚alten Dame’ aus Turin ins offene Messer zu laufen schien, drehten die Bremer den Spieß noch einmal um und erinnerten mit einem sagenhaften Endspurt an legendäre Taten grünweißer Flutlichtspiel-Romantik.

In den ersten Minuten hörte man die Bremer Herzen bis unters Stadiondach klopfen, doch als der Respekt abgelegt war, begann Werder ein konzentriertes Angriffsspiel aufzuziehen. Solange keine Lücke in Juves dichter Abwehr zu finden war, versuchten sich etwa Klasnic und Frings an Fernschüssen, denen aber sowohl Wucht als auch Präzision fehlten. Doch dann kam der Gastgeber zu zwei sehr guten Möglichkeiten, als zunächst Frings aus halbrechter Position und direkt danach Fahrenhorst mit schier unhaltbarem Kopfball scheiterten (23.). Beide Male bewies Buffon, dass ein Torwart vielleicht tatsächlich 50 Millionen Euro kosten darf und es deutete sich an, dass Werder auch etwas Glück benötigen würde, um gegen die skeptisch lauernden Italiener in Führung zu gehen. Tatsächlich war dies dann der Fall. Fast an der Eckfahne führte Klasnic den Ball auf engstem Raum und spielte mit der Hacke Christian Schulz frei, der zwar zunächst an Buffon scheiterte, dann aber von Cannavaro angeschossen wurde und das Leder irgendwie über die Linie bugsierte (38.). Die Führung war in jeder Hinsicht verdient, weil Bremen mit viel Leidenschaft spielte und sich keines Kraftaufwands zu schade war. Mit etwas Pech aber hätte es zur Pause auch 0:2 stehen können, weil einmal der sonst blasse Ibrahimovic frei stehend vergeben (25.) und kurz vor der Halbzeit Tim Wiese mit einer Heldentat gegen Viera gerettet hatte. Mit abwechselnden "Schuuuuulz"- und "Tim Wiese"-Sprechchören wurden die Spieler daher in die Kabinen hofiert.

Niemand nahm den Grün-Weißen übel, dass sie nach dem Wechsel das Tempo drosselten. Juventus war nach spürbarem Halbzeiteinlauf nun deutlich aktiver und fand immer häufiger Räume zur Entfaltung. David Trezeguet feuerte zwei Warnschüsse ab (49./67.), auf der anderen Seite köpfte Borowski eine Flanke des unermüdlichen Frings knapp neben das Tor (66.). Auch jetzt noch war Bremen latent überlegen, doch in der Abwehr ließ die Konzentration ein wenig nach, was der italienische Rekordmeister unbarmherzig ausnutzte. Patrick Viera ließ am linken Flügel Fahrenhorst stehen und spielte derart genial durch Bremens Viererkette, dass Nedved frei vor Wiese stand und die Kugel humorlos einlochte (73.). Juve zeigte, was eine Spitzenmannschaft ausmacht und packte Werder direkt an den flatternden Nervensträngen. Äußerst unglücklich fälschte Naldo ein Del Piero Zuspiel hoch in die Luft ab. Die sinkende Kugel erwischte Trezeguet eher mit dem Kopf als Owomoyela und traf mit Hilfe des Innenpfostens zum 2:1 für die Gäste (82.). Erinnerungen wurden wach an Lyon, als Werder im Hinspiel ebenfalls als besseres Team geschlagen wurde und am Ende gar böse unter die Räder kam. Doch diesmal steckten die Bremer nicht auf, gingen noch einmal ins Risiko und wurden belohnt. Frings drosch einen flachen Ball in den Sechzehner, Borowski hielt seinen Fuß rein und traf zum Ausgleich (2:2). Das tosende Publikum trieb Werder weiter nach vorn, und tatsächlich langte es sogar zum Sieg. In der Nachspielzeit verlängerte Owomoyela eine Ecke von Frings zu Micoud, der aus einem Meter zum 3:2 einköpfte. Bremen hatte Turin tapfer niedergerungen und durfte die späten Früchte für einen gewaltigen Kraftaufwand ernten. Keine ideale Ausgangslage zwar, aber Werder setzte ein dickes Ausrufezeichen und fährt mit breiter Brust zum Rückspiel nach Turin. Oder mit Ivan Klasnics Worten: "Ein Märchen mit dem Titel ‚Scheiße und Juhu’".



In der Schule gab‘s für mich Höhen und Tiefen. Die Höhen waren der Fußball.

— Thomas Häßler