WM-Quali als Qual für das Halbmondteam

Das in Istanbul angesetzte Freundschaftsspiel Türkei gegen Deutschland steht für die Gastgeber im Schatten des noch ungewissen WM-Qualifikationsausganges. Der WM-Dritte von 2002 kann es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen, die Endrunde in Deutschland zu erreichen. Scheitert das Team von Trainer Terim, würde das jüngst gewachsene Ansehen der Nationalelf wieder klar hinter das Interesse am Dreikampf der Istanbuler Klubs um den nationalen Titel zurückfallen.
Per "Sonntagsliga" zum Punktspielbetrieb
1923, im Jahre seiner Konstituierung, trat der türkische Fußballverband (TFF) der Fifa bei. Im Oktober des gleichen Jahres endete der erste offizielle Länderspielvergleich, in Istanbul, mit einem 2:2-Unentschieden gegen Rumänien. In Thessaloniki und Izmir lebende Engländer hatten das Spiel mit dem runden Leder etwa um 1877 in das damalige Osmanische Reich gebracht und hoben später den ersten Fußballklub auf türkischem Boden aus der Taufe, den "Football Club Smyrna" (Smyrna ist engl. für Izmir). Türken waren an dem Vergnügen allerdings nicht beteiligt, erst 1901 wurde unter dem Namen "Black Stockings" das erste türkische Team bekannt. 1904 nahm in Istanbul die so genannte "Constantinople Football League" ihren Betrieb auf, wegen der Spielansetzungen auch "Sonntagsliga" genannt. Zunächst waren es lediglich Klubs mit in Istanbul ansässigen Engländern, Griechen und Armeniern, die um Punkte und Tore stritten. Später aber schlossen sich nach und nach auch mit türkischen Aktiven besetzte Vereine, wie der 1905 gegründete Galatasaray SK, dem sportlichen Wettkampf an.
Löwen, Adler und Kanarienvögel
In den folgenden Jahren entwickelte sich der türkische Fußball vornehmlich in Stadtligen. Erst seit der Meisterschaftssaison 1959, die allerdings auch nur zwischen Klubs aus Ankara, Istanbul und Izmir ausgetragen wurde, folgte der Wandel zu einer Landes umfassenden Profiliga. Istanbul, mit den drei dominanten Vereinen Besiktas (Die "Schwarzen Adler", 1903 gegründet), Galatasaray (Die "Löwen") und Fenerbahce (Die "Kanarienvögel", 1907 gegr.) sollte zur absoluten Fußballhochburg der Türkei werden. Die im asiatischen Teil der Metropole beheimateten Fenerbahce-Kanarienvögel haben sich mit 16 Meistertiteln zum erfolgreichsten Klub des Landes gemausert; knapp gefolgt vom 15-maligen Titelträger Galatasaray und Besiktas (10-facher Meister). Mit dem Begriff "Rivalität" ist der Konkurrenzkampf zwischen den großen Drei des türkischen Fußballs nur unzureichend beschrieben, wie das teilweise drastische Fanverhalten bei Ligaspielen dokumentiert. Der Einsatz von mehr als 2.000 Sicherheitskräften ist bei solchen Anlässen nicht ungewöhnlich. Einig ist man sich in Istanbul nur gegenüber dem Team vom Schwarzen Meer: Trabzonspor. Die in der Osttürkei wohnhaften Kicker aus Trabzon mischen als einzige Nicht-Istanbuler regelmäßig im Kampf um die Titelvergabe mit und konnten bereits sechs Mal in die Phalanx einbrechen. Die letzte Meisterschaft datiert allerdings aus dem Jahre 1984.
Schlechte Bilanz gegen DFB-Teams
Auf bemerkenswerte Erfolge ihrer Nationalelf mussten die Türken lange warten. Der WM-Teilnahme 1954, als man in der Gruppenphase nach einer 2:7-Pleite gegen Deutschland ausschied, folgte eine lange Abstinenz bei großen Turnieren. Mit dem Erreichen des Viertelfinales bei der EM 2000 näherte sich das Team der internationalen Spitzenklasse an, und sorgte zwei Jahre später mit Platz drei bei der WM in Japan/Südkorea für das Highlight in der Verbandsgeschichte. In der aktuellen Fifa-Weltrangliste nimmt die Türkei als Zwölfter eine bessere Platzierung ein als die DFB-Elf (Rang 15). Die direkte Bilanz weist allerdings einen klaren Vorteil für die Deutschen aus, die von den 16 Vergleichen elf gewannen und nur zweimal verloren. Drei Remis runden die Statistik ab. Das Erreichen der WM-Endrunde 2006 haben die Türken nicht mehr in eigener Hand. Platz eins ist nicht mehr realisierbar, und selbst der für Relegationsspiele berechtigende zweite Rang kann noch verloren gehen, da Griechenland und Dänemark noch ein Spiel mehr in Hinterhand haben.
Bastürk ist türkischer Bundesliga-Rekordspieler
Etliche Spieler, die Nationaltrainer Fatih Terim zum Testspiel gegen das DFB-Team ins Aufgebot berufen hat, stehen bei Bundesligaklubs unter Vertrag. Yildiray Bastürk (Hertha) gehört dazu und ist einer der Wenigen, die noch von der erfolgreichen Asien-WM übrig geblieben sind. Hamit Altintop (Schalke) und Alpay (Köln) - auch Stammkraft des WM-Dritten - stehen ebenfalls in der Startelf. Halil Altintop (Kaiserslautern) und Nuri Sahin (Dortmund) hoffen auf Einwechslungen. 45 Türken standen in der Bundesligahistorie bei deutschen Klubs unter Vertrag. Die meisten Einsätze kann Bastürk aufweisen (178), gefolgt vom einstigen HSV-Schlussmann Arkoc Özcan (159) und dem Dortmunder Stürmer Erdal Keser (106/27 Tore). Nicht alle schlugen so gut ein. So scheiterte der bei Schalke mit viel Vorschusslorbeer angetretene Hami Mandirali in der Saison 1998/99 und kehrte desillusioniert in die Heimat zurück.
Trainerzuwanderung aus deutschen Landen
Spätestens seit Ex-Bundestrainer Jupp Derwall mit Galatasaray erfolgreich war (von 1984-1988, zwei Mal Meister, ein Pokalsieg) setzte eine Trainer-Wanderung von Deutschland in die Türkei ein. Feldkamp (Galatasaray), Daum (Besiktas), Briegel (Trabzonspor), Lorant (Fenerbahce), Sundermann (Malatyaspor) und Berger (Bursaspor) sind nur einige Namen, die folgten. Der Erste war jedoch Horst Buhtz, der im Jahre 1975 bei Besiktas unterschrieb. Jürgen Löw, die rechte Hand von Bundestrainer Klinsmann, zählt als Ex-Fenerbahce-Coach auch zu dieser Gruppe und damit den Intimkennern des türkischen Fußballs. "Wenn es läuft, ist diese Mannschaft zu allem fähig", schätzt er die türkische Elf als echten Gradmesser für die DFB-Auswahl vor der WM ein. Der derzeit wesentliche Unterschied zwischen beiden Teams: Die Deutschen sind bei der WM 2006 automatisch dabei; die Türken haben in erster Hinsicht den 12. Oktober vor Augen, wenn es in Albanien um die Wahrung ihrer letzten Chance geht.
André Schulin